Wenn ihr jemals im Kreise lieber oder auch schrecklicher Menschen zu tief und zu oft ins Glas geschaut habt, wenn sich der Schwindel im Hirni breitgemacht hat und klare Gedanken schwammig werden ließ, wenn Augen und Ohren und Nase euch Streiche spielten und Erinnerungen nur bruchstückhaft gespeichert wurden, kurz: wenn ihr jemals betrunken wart und am nächsten Tag versucht habt, die Geschehnisse Revue passieren zu lassen, dann wisst ihr, dass die Zeit nur bedingt unabhängig von uns selbst verrinnt. Tempus fugit, natürlich, das Wasser kocht niemals, wenn wir zusehen, aber kurz ist das Vergnügen, wenn wir fun haven. Wir brauchen keine Relativitätstheorie, wenn wir sternhagelvoll sein können. Und rückblickend ist sowieso alles anders, rückblickend setzen wir uns alles nach unseren eigenen Regeln irgendwie zusammen.
Der Zeitraum zwischen meinem 14. und meinem 18. Geburtstag war ebenso lang wie der zwischen meinem 18. und meinem 38. Der Morgen des 24. Dezembers dauert für ein Kind ein halbes Jahr, der Nachmittag ein ganzes, als Erwachsener bleiben fürs Einkaufen, Kochen, Aufräumen, Anziehen, Ausziehen, Einpacken, Streiten, Verrücktwerden und Intränenausbrechen gerade einmal gefühlte zehn Minuten.
Und langsam und plötzlich liegen 21 Monate Pandemie hinter uns. 21 Monate. Jeder Tag gleich, jeder Tag völlig anders. 21 Monate, die sich anfühlen wie 21 Jahre, 21 Monate, die sich anfühlen wie 21 Tage.
Wir haben Menschen verloren: Nachbarn, Verwandte, Freunde. Manche sind eingeschlafen, manche elendiglich verreckt und manche, ja, für manche ist die Realität nur noch ein Vorschlag. Tante Marion war immer schon ein bisschen komisch, das wussten wir, aber dass ausgerechnet Herr Breitenberg, der war doch immer ein kluger und patenter Mann, und dann auch noch die Elfi, der Mürbel und sogar mein Zahnarzt –
Es ist nicht einfach, für keinen von uns. Wir werden einander vergeben müssen, wir werden aufeinander zugehen müssen. Und auch wenn manche Aussage sehr wohl mit falsch oder richtig beantwortet werden muss, so sind doch die Guten nicht immer nur gut und die Schlechten nicht immer nur schlecht.
Ich wünsche euch allen Kuchen und Torte und Nachtisch. Ich wünsche euch Bewegung, wo ihr erstarrt seid, Leichtigkeit, wo es schwer wiegt, Verzögerung, wo es schnell wird. Ich wünsche euch Drucker, die funktionieren, Züge, die pünktlich sind, Videokassetten, die zurückgespult wurden. Fühlt euch warm und trocken, wenn es stürmt und regnet, fühlt euch drinnen, wenn es draußen scheißt. Seid zuhause, wenn ihr Gäste habt, seid da, wo ihr seid, wenn ihr dort seid, seid temporär anosmisch, wenn jemand furzt. Nörgelt nicht zu viel: Es geht uns meistens gut. Schreit nicht zu viel: Manchmal müssen wir leise sein. Schweigt nicht zu viel: Manchmal müssen wir laut sein. Urteilt nicht. Oder urteilt, aber vergesst dabei nicht, dass ihr euch irren könntet. Lasst Türen offen. Hört Musik, lasst euch von ihr tragen und spürt euch. Vergesst nicht zu vergessen und erinnert euch an die maulbrütenden Buntbarsche im Viktoriasee. Greift nach der Freiheit, haltet sie fest: Es ist nicht deine, nicht meine, es ist unsere Freiheit.
Auch in diesem Jahr feiern wir Weihnachten nicht so, wie wir es von früher gewohnt sind. Vielleicht werden wir uns sogar an ein neues Weihnachten gewöhnen müssen, vielleicht werden wir uns daran gewöhnen müssen, anders miteinander umzugehen als wir es damals getan haben, damals vor 21 Monaten. Und vielleicht, nein, sogar ganz sicher, werden nicht alle uns weiterhin auf unseren Wegen begleiten, deshalb sagt es einander, einfach so, weil es geht, sagt es übers Telefon, schreibt es ins Internet, ruft es ins Dosentelefon, über alle Grenzen, über die Berge, die Täler, die Meere, egal, macht es einfach: Sagt einander, dass ihr euch lieb habt.
Möge wenigstens das Bestand haben, wenn auch vielleicht nur für einen Moment, denn rückblickend ist sowieso alles anders, rückblickend setzen wir uns alles nach unseren eigenen Regeln irgendwie zusammen. Dafür und für alles andere wünsche ich uns mehr als Glück.
Rock’n’Roll und pax nobiscum,
Björnbär