Weihnachten 2020

„Mohnkließla“ sind eine schlesische Süßspeise, die bei uns traditionell an Heiligabend serviert wird: In Milch gequollener Mohn wird mit Weißbrot, Zucker, Honig und verschiedenen Gewürzen vermischt, in einer Schale angerichtet und mit Rosinen und gehobelten Mandeln bestreut. Jede Familie hat ihr eigenes Rezept, selbstverständlich, denn nur so kann gewährleistet werden, dass das eigene das beste ist.

Es ist eine furchtbare Pampe, viel zu süß, viel zu schlabberig, viel zu klebrig. Wahrscheinlich muss man in Schlesien geboren sein, um sie genießen zu können. Ich kann das nicht, ich wurde an der Grenze zur Schweiz geboren. Ich mag keine Mohnkließla, ich mag Schoggistängeli.

In diesem Jahr sitzen wir an anderen Tischen. Wir blicken mit anderen Augen in andere Augen. Manche sind traurig, manche nervös, manche leuchten allem zum Trotz. Und manche sind gar nicht mehr da. Es gibt keine Mohnkließla mehr und sie fehlen mir.

Es fällt schwer, nicht die Hoffnung zu verlieren: Es ist ein Geschrei in den Straßen, wenn es ruhig sein könnte, und wenn es ruhig ist, ist es gespenstisch. Es ist warm, wenn es kalt sein sollte, und wenn es kalt ist, friert das Näschen nur bei den Unverbesserlichen. Dummheit und Vernunft bekämpfen sich mit allen Mitteln, die einen gehen auf Abstand, die anderen husten sich ins Gesicht. Und Rücken, Arsch und Seele tun weh, weil sie viel zu selten in Bewegung sind. Mein Gedächtnis wurde dünner, mein Bauch umso dicker.

Es werden leichtere Tage kommen und wir werden vergessen, dass es schwer war, so wie wir vergessen werden, was wir zu lernen geglaubt haben. Es geht uns gut. Es geht uns so verdammt gut.

Ich wünsche euch allen eine Zauberzeit, einen Außenaugenblick, einen Minnemoment. Ich wünsche euch Unsinnlichkeit und Schräggesang, Friedensausbrüche und Herzertragen, Tannenträume und Denkgeschenke. Ich wünsche euch Zickezackehühnerkacke und Warisoverifyouwantit. Fühlt euch zuhause, wo immer ihr seid. Fühlt euch willkommen in eurer eigenen Welt. Seid kilometerweit beieinander, seid abstandsvoll fröhlich, seid umgeben von gegenseitigem Respekt und einer guten Gesinnung. Jammert nicht so viel. Oder jammert, aber wisst dabei, dass auch das eitel ist. Seid unerschrocken ängstlich. Seid ekelhaft froh. Hört gute, laute Musik und vergesst Xavier Naidoo, aber erinnert euch an die maulbrütenden Buntbarsche im Victoriasee. Nehmt euch die Freiheit, frei zu sein. Und sagt einander, einfach so, weil es geht, übers Telefon, über Discord, Zoom oder Whatsapp, über Grenzen hinweg, soziale, physische, lokale, über Berge und Täler, sagt einander, dass ihr euch lieb habt.

Ich wünsche euch mehr als Glück.

Ach, und noch etwas, bevor ich es vergesse: Ist meine Familie aus Schlesien geflohen oder wurde sie vertrieben? Bin ich ein Kind von Vertriebenen oder ein Kind von Flüchtlingen? Und wenn ja, wo ist der Unterschied? Und wenn nein, warum nicht?

Rock’n’Roll und pax nobiscum,
Björnbär