Silvester 2020

Was war das für ein beschissenes Jahr! Alle sagen das und ich natürlich auch, denn wenn ich meine Gedanken und Erinnerungen sortiere und zurückblicke, nicht im Zorn, sondern so objektiv wie’s nur geht, rufe ich mir doch nur das Schreckliche ins Gedächtnis: Ich habe die Sojasauce mit dem Ingwermuttersaft verwechselt und einen sehr ekelhaften Tee getrunken, ich habe mir Senf aufs Butterbrot geschmiert statt Marmelade, mir ist eine Kaffeetasse aus der Hand gefallen und in tausend Stücke zerstoben. (Die mit dem dicken Mann und dem Huhn drauf, aber ach, egal.) Einmal hat der Paketbote nicht geklingelt, obwohl ich zuhause war, also musste ich mit der Bahn bis nach Altbach zum Postpoint fahren. Die blöde Hortensie, die dumme Sau, hatte nur eine einzige Blüte! Im Juni habe ich mal den Bus verpasst und im November meinen Einkaufszettel zuhause vergessen. Mir ist mein Schlüsselbund in die Toilette gefallen. Bei World of Warcraft hat mir so ein dahergelaufener Troll „Das Auge der Offenbarung“ weggewürfelt und bei „Breath of the Wild“ wurde Link von einem Schwarm Bienen zu Tode gestochen. Von Bienen, verdammt, Bienen!

Schnickschnack, werdet ihr sagen. Vernachlässigbare Kleinigkeiten. Deine Probleme möchte ich haben. Lächerlich bist du, zum Affen machst du dich, denn Corona, diese furchtbare Krankheit und viel zu viele Tote. Denn die Krankenhäuser, denn das Klinikpersonal. Denn die Kinder. Denn die Schulen. Die Familien, die Gemeinschaftlichkeit, die Freiheit. Denn die Wirtschaft.

Die Erschütterung der Werte, die Zertrümmerung der Vernunft, der unerträgliche Verlust des respektvollen faktenbasierten Meinungsaustauschs. Und immer wieder rechte Arschlöcher mit gewissenlosen Anführern, die das Heil versprechen und den Untergang provozieren.

Ich habe Angst und ich bin wütend. Es ist das unfassbare Große: Ich kann es nicht kontrollieren, ich kann es nicht greifen. Es ist da, um mich und immer, und es ist so verlockend, dieses wabernde Abstrakte zu zerreden und das alltäglich Konkrete als albern abzutun. Es ist das Alltägliche, das Nahe, das, was neben und mit mir geschieht, das so fiese weh tut.

Bei der Ausarbeitung von Strategien wurden immense Fehler gemacht, die Querdenker sind eine gefährliche Schande, die Zukunft eher düster. Aber wenn ich morgens um sieben schlaftrunken und barfuß mit dem kleinen Zeh an der Badezimmertür hängenbleibe, weil ich mal wieder unkoordiniert durch die Bude stolpere, dann schreie ich vor Schmerzen. Ganz real und ganz konkret.

Habt einen friedlichen Jahreswechsel, liebe Mitreisende, wo immer ihr seid und wer auch immer bei euch ist. Macht 2021 zu eurem Jahr: Guckt mal dort hinten, da ist doch was. Räumt euer Zimmer auf. Esst keine Kirschen, nachdem ihr schwimmen wart. Sprecht miteinander, das geht. Malt Bilder von und mit Kugelschreibern. Verhöhnt euren Kamm. Beschimpft Gegenstände. Leckt an Eis, baut Schneeflocken aus Rauhfasertapeten. Komponiert Lieder aus Efeu. Lernt Zaubertricks, fangt mit den einfachen an und steigert euch, damit ihr spätestens im Sommer Autos verschwinden lassen könnt. Reimt „Träume“ auf „Multifunktionsdrucker“. Pflanzt einen Baum in den Garten vom Nachbarn. Macht mal so. Hebt Türen in die Angeln, bastelt eine Playstation aus Salzteig, sortiert Bücher nach dem Geburtsmonat der Autorinnen. Macht Quatsch, bitte, macht jeden Tag herrlichen, unsinnlichen, liebenswerten Quatsch mit süßsaurer Soße. Nehmt Abstand. Übt liegen. Löst das Rätsel der maulbrütenden Buntbarsche aus dem Victoriasee. Nehmt Albernheiten ernst und veralbert das Ernste. Klaut euch Augenblicke und verschenkt sie. Hört Musik, laut und ständig. Knetet euch einen Wolf. Empört euch und regt euch auf, aber nicht wegen jedem Scheiß. Nagelt. Spielt Händeklatsch, Gugus-Da und Dülledülledülle. Stellt das Marmeladeglas nicht neben das mit dem Senf. Sammelt USB-Sticks und lacht. Verdammt noch mal: Lacht! Über euch, über mich, über den allerdümmsten Scheiß.

Vergesst nicht, dankbar zu sein: All jenen, die sich für uns den Arsch aufreißen, ob in Kliniken, in Supermärkten, in Heimen. Wo auch immer sie sind, die uns am Leben halten, physisch und psychisch. Dankbarkeit ist eine Einstellung und wir können sie uns leisten.

Und auch in diesem Jahr sind Küsse besser als Raketen und sobald es wieder möglich ist, wird geknutscht, was das Zeug hält, das verspreche ich euch.

Planet Earth is blue.

Pax nobiscum,
Björnbär