Silvester 2021

Wir sollten es inzwischen besser wissen, es ist schließlich nicht das erste Jahr unseres Lebens, ja, es ist noch nicht einmal das erste sogenannte „Corona-Jahr“, wir haben das alles schon erlebt und trotzdem fühlen wir uns wieder einmal als stünden wir mit löcherigen Stiefeln im knietiefen Schlamm: Ja, es ist alles scheiße, alles, alles, alles.

Nein, ich fange anders an –

Der Sommer war verregnet gewesen, die Böden versuchten wenig erfolgreich das Wasser, das sie in den Jahren zuvor verloren hatten, zu speichern, doch uns erreichte die Flut. Das ist der Klimawandel, schrien die einen der Verzweiflung nahe, die anderen drückten weiterhin aufs Gas. Der Herbst schenkte uns ein paar warme Tage, doch mit ihm kam das Virus zurück, die Zahlen stiegen, Nervosität machte sich breit. Was hätten wir ahnen können und was nicht?

Nein, ich fange anders an –

Es begab sich eines Tages, da versammelten sich jene, die nicht sehen wollten, und sie sprachen: Sagt uns, aus welcher Vollmacht tut ihr das? oder wer hat euch diese Vollmacht gegeben? Sind nicht wir das Volk, wir, die wir nur wenige sind, aber sagen, wir sind viele?
Aber jene, die nicht blind glaubten, sondern vertrauten auf das Wort der Gelehrten, sprachen: Nicht ihr seid das Volk, Spalter seid ihr. Und sie sprachen weiter: Das Heilmittel wurde der Welt nicht gegeben, dass es die Welt vergifte, sondern sie rette. Und ihr, die ihr zetert, seid nicht alle verloren, nicht alle haben wir aufgegeben. Doch wer Böses tut, der hasst das Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Folgt nicht jenen, die Böses tun, sondern folgt jenen, die das Licht mit sich bringen. Denn siehe, es wird besser werden, wenn wir miteinander frei sind und nicht allein.

Nein, ich fange anders an –

Ole, ole ole ole, Dritter in der Tabelle! Spannende Spiele! Dieser eine Elfmeter! Das Tor in der Nachspielzeit! Aber die Fehlentscheidungen des Schiedsrichtergespanns! Der Trainer hat wieder einmal eine Mannschaft geformt. Eine Mannschaft, die läuft. Die nicht aufgibt. Die zusammenhält. Natürlich gibt es die Besserwisser und die Nörgler. Immer gibt es die. Er solle sich raushalten, sagen sie, bei seinen Leisten solle er bleiben, Fußball habe nichts mit Flüchtlingen zu tun. Mit Corona nicht. Mit Politik nicht. Aber ist es nicht gerade Aufgabe des Sports, Menschen zusammenzuführen, über Grenzen hinweg, losgelöst von Herkunft, Religion und Geschlecht? Aber sind es nicht gerade Persönlichkeiten wie Christian Streich, die Vorbild sein dürfen, ja sogar müssen? Persönlichkeiten, die eine Haltung haben, die klug und herzlich und bedacht über ihre gesellschaftliche Rolle und Verantwortung nachdenken und sich angstfrei äußern, wenn auch für manche hin und wieder unverständlich?

Nein, ich fange anders an –

Ich hoffe, diese Zeilen treffen euch bei guter Gesundheit, ich hoffe, ihr hattet keine oder nur wenige Beschwerden, körperlich zumindest, denn der Geist litt, unsere Seelen litten, sie leiden noch immer, es geht mir nicht anders als euch. Mein Hasenherzchen pocht das besorgte Blut durch die Adern, unwissend bin ich, obgleich, o meine Freund·innen, ich die Nachrichten verfolge, täglich dürstend und unersättlich die Gazetten erwarte und jedes Wort aufsauge, neugierig, prüfend, schier wahnwitzig und in innerer Unruhe dem Drang folgend, etwas zu lernen, etwas Greifbares, etwas, das mir Halt gibt.

Nein, ich lasse die Anfänge, zumindest für den Moment. Anfänge, auch wenn ihnen ein Zauber innewohnt, bleiben fruchtlos, wenn wir nicht weitermachen, wenn wir nie zu einem Ende kommen. Lasst uns hier sitzen, zumindest für den Moment, und dann den Blick nach vorne richten. Wie wir es immer getan haben. Wie wir es immer tun.

Genießt die letzten Stunden des Jahres, liebe Mitreisende, die letzten Stunden des Jahres, in das wir so viele Hoffnungen gesetzt hatten und das wir rückblickend verfluchen, weil es nicht gehalten hat, was wir uns von ihm versprochen hatten. Seid nicht zu enttäuscht, da waren doch Momente, Augenblicke, Kleinigkeiten, aus denen etwas Größeres erwuchs. Nicht alles war gestreift, manches auch kariert oder mit lustigen Punkten verziert. Blümchenmuster gab’s auf den Tapeten und den Feldern, leuchtende Gesichter, zwar meist hinter Masken, aber die Augen, ihr habt doch die Augen gesehen. Bewahrt euch die niedlichen Frechheiten und baut euch Häuser aus Pappkarton und Popcorn. Guckt mal da oben, da ist doch was. Und da unten auch. Und unter dem Bett wohnen die Träume vom Meer. Rutscht nicht ins neue Jahr, sondern flutscht. Fliedert. Flattert. Flittert. Haltet Abstand und seid euch nahe. Übt den Tanz der Sommerkinder. Malt Steuererklärungen mit Strichmännchen aus Streichhölzchen. Knetet aus Teig einen maulbrütenden Buntbarsch aus dem Victoriasee. Schneidet die Etiketten aus euren T-Shirts. Wascht euch. Und die Jogginghosen auch, es wird Zeit. Hört laute Musik und gute Musik lauter. Serviert Quatsch mit einer Jus aus Zuckerguss und Liebesperlen. Sammelt Steine, die Prominenten ähneln. Treibt Unfug, herzlichen, unsinnigen, verzückenden Unfug. Sortiert eure Schuhe und dann werft sie alle durcheinander. Streicht die letzte Staffel aus dem Gedächtnis. Grüßt eure Nachbarn. Nehmt euch ein Lächeln und legt eins zurück. Singt, aber singt falsch. Räumt den Keller auf. Oder nein, räumt den Keller nicht auf, dafür ist später noch Zeit. Esst Plätzchen im Park, parkt essend auf Plätzen. Sägt Sachen zu. Macht etwas aus und mit Gliedern. Seid albern ohne Reue. Löst das Rätsel vom Superpapagei. Lacht. Schreibt Einkaufszettel und verkauft sie im Supermarkt. Sprecht miteinander. Rahmt euch ein. Und gebt nicht auf, auch wenn ihr Angst haben solltet. Für Angst ist später noch Zeit, denn Angst bezieht sich immer auf etwas, das in der Zukunft passieren wird – falls es überhaupt passiert.

Doch so höre ich nicht auf, so nicht.

Sondern so: Seid freundlich, demütig und dankbar. Glaubt mir: Nur auf diese Weise kommen wir weiter. Nur auf diese Weise wird unsere Geschichte irgendwann ein Ende finden und es wird ein gutes sein.

Planet Earth is blue.

Pax nobiscum,
Björnbär

Silvester
Na, Wunderkerzen sind doch okay, wir brauchen kein großes Feuerwerk.