Jenerwelcher

Der Enkeltrick
Eine Kurzgeschichte

Es hat sich mittlerweile ja herumgesprochen: wenn da angeblich der Enkel am Telefon ist und dringend Geld braucht – nicht drauf reinfallen, das ist ein Betrugsversuch!

Seit nun überall vor dem „Enkeltrick“ gewarnt wird, fallen immer weniger Senioren darauf herein – sogar bei den echten, eigenen Enkeln.

Enkel aber sind erfinderisch…

Ein älterer Herr, der in unserer Straße zwei Häuser weiter wohnt, ist im Besitz eines 15 Jahre alten Computers sowie eines gleichaltrigen Enkels.

Der Computer, noch mit Windows 7, hat „nie Probleme gemacht“. Von dem Enkel wird noch zu reden sein.

Eines unschönen Tages nämlich beginnt der Computer, Geräusche von sich zu geben wie eine defekte Kreissäge. Der Enkel vermutet ganz richtig, dass die Festplatte defekt ist.
Da der Besitzer aber über Nachbarschafts-Funk gehört hat, dass ich mich mit Computern auskenne, werde ich um eine zweite Meinung gebeten.

Leider kann ich auch nur feststellen, dass da nichts mehr zu retten ist.

Etwas Neues muss also her.

Der Enkel tendiert zum Laptop. Eine kurze Nachfrage ergibt aber: Opa will nur (Originalton) „googeln, Wikipedia und Fotos gucken“. Dafür braucht es keine besondere Ausstattung, das kann jedes halbwegs moderne Gerät.

Dazu kommt: Opa ist über 80, gehbehindert und kommt praktisch nicht mehr aus dem Haus, wozu bräuchte der ein tragbares Gerät? Und die Augen wollen auch nicht mehr so recht, also wäre ein großer Bildschirm angesagt.

Ich empfehle daher einen Mini-Computer im unteren Preissegment, mit Windows 10, und dazu einen extra großen Flachbildschirm.

Allgemeines Kopfnicken, meine Argumente scheinen einzuleuchten.

Zwei Wochen später erhalte ich einen Anruf: Der Nachbar  kommt mit dem neuen Computer nicht so richtig zurecht. „Könnten Sie vielleicht nochmal gucken kommen?“

Na gut, ich komme, und was seh‘ ich?

  • Ein High-End-Gaming-Laptop für schlappe 1600 Euro mit jedem Schnick und jedem Schnack:
  • beleuchtete Tastatur – mit Farbwechsel!
  • eine Super-Duper-Grafikkarte, wie sie eigentlich nur für die neuesten Ballerspiele benötigt wird
  • 32 GB Arbeitsspeicher (so viel hab‘ ich noch nicht einmal),
  • eine gigantische SSD-Festplatte, die locker für hundertausend Fotos Platz böte
  • Und, nicht zu vergessen, ein Full HD-Display – das heißt: höchste Auflösung. Nur, weil sich das auf dem kleinen Bildschirm des Laptops zusammendrängt, kann der Herr die winzigen Buchstaben nicht mehr erkennen.

Warum fragen mich die Leute eigentlich um Rat und kaufen dann doch ein teures, völlig überdimensioniertes Gerät, das sie überhaupt nicht ausnutzen können?

Warum? „Mein Enkel hat gemeint, das wäre technisch viel besser!“

Der Grund, warum ich gerufen wurde: mein Nachbar kommt mit Windows 10 nicht zurecht, ich soll das doch bitte so einstellen, dass das wieder so aussieht wie früher.

Und das Ende vom Lied: nachdem ich mir den Mund fusselig geredet habe, hat mein Nachbar jetzt doch die Konfiguration, die ich ursprünglich vorgeschlagen hatte – und der Enkel hat ein brandneues Gaming-Laptop.

Hmm… bin ich jetzt zynisch, wenn ich mich frage, ob der das nicht von Anfang an so geplant hat?


Twitter: @Jenerwelcher1