Silvester 2022

Im März kam ein vierzehnjähriger Schüler im hessischen Kleverding durch eine FFP2-Maske ums Leben: Ein rücksichtsloser Zeitgenosse hatte sie auf die regennasse Straße geworfen, der Junge rutschte darauf aus, fiel sehr unglücklich, brach sich das Genick. Der herbeigerufene Rettungswagen konnte nur noch seinen Tod feststellen.

Im Mai wollte ein 42jähriger Biologe aus Oberndorf am Neckar einen Kreditanbieter verklagen, weil dieser ihm mehrfach Werbebriefe mit gendergerechter Anrede zugeschickt hatte, was bei dem Mann zu Erektionsstörungen geführt haben soll.

Im Juni veröffentlichte eine angeblich der AfD nahestehende Journalistin einen Artikel, in dem sie „die Fixierung der Ampelregierung auf die Stärkung der Rechte von lächerlich selbstbezogenen Minderheiten“ als die größte Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bezeichnete. „Linke Sex-Gangster und Transideologen aus Wokistan“ arbeiteten aktiv an der Zerstörung der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft durch „bis ins Absurde überzogene Forderungen der Gleichstellung von nicht-existenten, dem regenbogenfarbenen Wahn entsprungenen und pathologisch imaginierten Geschlechtern“.

Im August erhielt eine Rentnerin (76) aus Werne ihren ersten Impf-Booster und erlitt wenige Stunden später einen lebensbedrohlichen Schwächeanfall. Sie hatte ein Schreiben ihres Vermieters geöffnet und gelesen, in dem er die Miete um 280 Prozent erhöhte und eine eventuelle Kündigung des Mietvertrags androhte.

Im Oktober klebten sich drei Klimaaktivisti an die Eingangstür der Kita „Sonnenschein“ in Altburg-Nordstedt, um die Eltern über die Auswirkungen der Klimakatastrophe auf ihre Kinder aufzuklären. Ein Vater, der etwas in Eile war, weil er laut Eigenaussage „einen dringenden Termin im Vorstand“ wahrnehmen müsse, verweigerte sich dem Dialog und versetzte den Demonstranten einige kräftige Tritte und Schläge, begleitet von den Worten „Dir geb‘ ich Klima, du Wichser!“ und dem Applaus umstehender Eltern und Erzieherinnen.

Der deutsch-syrische Schriftsteller Amir al-Abharim schreibt in seinem Buch „Freie neue Weltordnung – Warum wir kämpfen müssen“: „Mein Leben führte mich von Deutschland nach Syrien und wieder zurück, meine Heimat ist die Reise, wer ich bin, weiß ich nur, wenn ich weiß, wo ich bin. Ich wollte frei sein und man legte mich in Ketten: In Syrien war mein Körper bedroht, in Deutschland ist es mein Geist.“

Zugegeben: Dies ist eine Aufzählung von Einzelfällen und Zitaten, die das Jahr nicht als Ganzes abbilden, die nur einen winzigen Einblick geben können auf das, was auf den Straßen und Gassen und in den Köpfen und Seelen der Menschen passiert. Und doch dürfen wir die Augen nicht verschließen: Überall lauert die Gefahr, überall erwischt uns dieses unwirkliche Gefühl des Verlorenseins, das ungute Zittern im Gedankenschwamm. Die erholsame Stille verwehren wir uns selbst, indem wir uns immer wieder und ständig in den Sturm aus Meldungen, Nachrichten und Meinungen begeben, geschützt durch eine Survivalausrüstung, die wir „Resilienz“ nennen, die aber doch nur ein dünnes Jäckchen ist.

Und noch einmal zugegeben: Ich habe mir diese Einzelfälle und Zitate ausgedacht, sie sind erstunken und erlogen, sie sind meinem wirren Hirn entsprungen. Ich habe das absichtlich getan, klaren Verstandes (wobei „klar“ natürlich eine Frage der Interpretation ist), ich habe euch an der Nase herumgeführt, in eine Falle gelockt, ich habe euch beschissen und damit das getan, was dem Geist unserer Zeit entspricht.

In einem Interview anlässlich der US-Wahl 2020 sagte eine Frau frohgemut und aus dem Brustton der Überzeugung, dass sie wisse, dass Trump lüge, das aber keine Rolle spiele, denn er habe ja recht mit dem, was er sage.

Wenn Faktenchecker aufdecken, dass ein Mitglied der AfD, ein rechtsextremer Kolumnist oder ein selbsternannter Aufklärer wieder einmal eine gefährliche Lüge in die Welt hinausposaunt hat (und dabei nicht einmal mehr nur ein Zitat aus dem Zusammenhang reißt, eine Statistik zurechtstutzt und mit Zahlen jongliert, sondern bar jeder Quelle und Grundlage Behauptungen als Tatsachen ausgibt), wird in den Kommentarspalten relativiert und verteidigt. Das ist nichts Neues. Neu ist aber das Argument: Es ist nicht wichtig, ob es wirklich so war oder ist, es zählt nur, dass es so sein könnte oder hätte sein können. Wir leben in einer Welt des Es-könnte-ja. In einer selbstgemachten Realität, in der wir nur zulassen, was uns genehm ist. Und das wäre alles nur halb so schlimm, wenn nicht gesellschaftliche und politische Entscheidungen auf dieser Basis gefällt würden.

Es würde nicht schaden, wenn wir uns bei Gelegenheit einigen könnten, woran wir glauben und was wir wissen. Wenn wir die kleinste gemeinsame Wirklichkeit suchten und fänden, wie Mai Thi Nguyen-Kim es formulierte. Ist anstrengend, ich weiß.

Habt einen friedlichen Jahreswechsel, liebe Mitreisende, wo immer ihr seid und wer immer bei euch ist. Blickt zurück, aber nicht im Zorn, sucht euch die guten Momente und nehmt sie hin. Sucht euch die schlechten Momente und belächelt sie. Macht 2023 zu einem besonderen Jahr, es wird schon nicht so schlimm wie das letzte, auch wenn ihr das immer sagt. Sagt also mal was anderes, sagt mal Ah! Oder lernt Italienisch, wenn ihr’s noch nicht könnt. Seid mal wieder jung. Esst mehr Obst, ihr braucht Vitamine. Knetet rum, an euch, gerne auch an anderen, wenn die das möchten. Leckt Eis, aber so richtig mit Zunge raus. Singt. Nehmt euch etwas vor. Geht baden. Nehmt euch wieder etwas vor. Geht weiter. Kauft Katzenminze und zählt die Mandeln. Spaziert gen Süden, wenn nicht zu Fuß, dann in Gedanken. Regt euch nicht immer so auf, das ist nicht gut fürs Herz und für den Kopf erst recht nicht. Schaltet das Internet ab, im Ernst: Schaltet es endlich ab! Leiht euren Nachbarn am Sonntagmorgen ungefragt Eier und Mehl. Löst das Geheimnis der maulbrütenden Buntbarsche im Victoriasee. Serviert Senf, serviert Senf zu einfach allem. Tragt ab und zu eine Maske, nehmt sie aber auch ab und zu ab. Seid nicht zu hart in eurem Urteil, aber seid auch nicht zu weich. Werdet geil. Guckt lineares Fernsehen. Kauft euch ein Ticket. Tanzt. Schimpft auf das Wetter, manchmal liegt’s nicht am Klimawandel. Macht euch mal locker und vergesst hin und wieder eure scheiß Befindlichkeiten. Und vergesst hin und wieder auch diese scheiß Sterblichkeit. Schreibt Briefe, Postkarten und ab. Klatscht euch Beifall. Macht herrlichen Quatsch, macht ganz arg oft herrlichen, sinnvollen, liebenswerten Quatsch. Scheißt auf den größten Haufen. Lernt einen Marco kennen, einen Marco braucht man im Leben. Lernt Menschen kennen, die den Rhein lieben. Lernt überhaupt Menschen kennen, echt jetzt, je mehr Menschen ihr kennenlernt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass darunter auch ein paar gute sind und die sind’s wert. Fahrt mit der Bahn, auch wenn sie es uns nicht leicht macht. Ärgert euch. Zumindest hin und wieder. Vieles ist scheiße, manches aber nicht. Vieles ist toll, manches aber nicht. Nichts ist von Bestand, weder das Schöne noch das Hässliche. Diese Phrase spendet Trost, oder nicht? Wir sollten öfter Trost spenden, ja, macht das doch mal: Spendet Trost. Seid demütig. Seid dankbar. Dankbarkeit ist eine Einstellung und wir können sie uns leisten.

Im Gegensatz zu geliebten Menschen, Tieren und Träumen can Rock’n’Roll never die. Also hört Musik und hört sie laut. Und vergesst nicht: Küsse sind besser als Raketen. So viel besser.

Planet earth is blue.

Pax nobiscum,
Björnbär