Silvester 2023

Diese vermaledeiten Traditionen: Wieder sitze ich Nägel kauend am Laptop, wieder suche ich nach und ringe mit Worten und Wörtern, wieder ist ein Jahr vorüber, wieder ein Jahr, auf das ich wieder nicht im Zorn zurückblicken möchte, wieder fällt es mir schwer, es fällt mir schwerer und schwerer, doch noch bleibt Hoffnung: Es war wahrscheinlich nur das beschissenste Jahr bisher!

Diese vermaledeiten Traditionen: Wir sind doch wer und die Welt schaut ehrfürchtig auf unser in jeder Hinsicht großartiges Land, in dem wir gut und gerne leben und in dem die Bevölkerung von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen erwartet, uns so sanft zu streicheln wie der zweite Teil eines Films oder eines Computerspiels: Neu soll alles sein und innovativ und up-to-date und gleichzeitig so bleiben wie es war. Veränderungen sollen milde sein – und sind sie das nicht, dann bitte wenigstens billig und schlicht. (Nicht, dass man mir unterstellt, ich würde 16 unionsgeführte Jahre mit „Star Wars“ vergleichen und die Politik der Ampel mit der letzten Staffel „Game of Thrones“, nein, nein, aber, come on, die meisten von uns hatten es sich doch in lethargischem Stillstand unter der Kanzlerin gemütlich gemacht und ihr Popcorn futternd die Schuld an jeder Unterbrechung durch menschliche Bedürfnisse gegeben.)

Diese vermaledeiten Traditionen: Arbeit hat dieses Land groß gemacht, also sollten wir mehr arbeiten, wir faulen Säcke, ganz generell sollten wir mehr arbeiten, mehr Arbeit löst Probleme, wenn wir nur mehr arbeiteten, bräuchten wir keine zugereisten Fachkräfte, kein vernünftig reformiertes Bildungs- und Gesundheitssystem, wer mehr arbeitet, hat keine Zeit zum Zahnarzt zu gehen, wo er aber zumindest einen Termin bekäme, wenn erst die „Horden“ (Zitat) von Mundhygienemigranten in guter alter Jedem-das-Seine-Manier verarbeitet worden wären. Wir bräuchten keine Radwege und auch keinen ÖPNV, denn wer arbeitet, kann sich eine Wohnung im Speckgürtel und auch einen großstadttauglichen SUV leisten und wenn es dann noch genug Straßen, Autobahnen und Parkplätze gibt, ist auch der Weg zum Arbeitsplatz zwar kein kurzer, aber durch ein Tempolimitverbot ein schneller. Wer arbeitet, wird nicht schwul und schon gar nicht zu einer trans Person, wer arbeitet, braucht keinen Genderstern, wer arbeitet, hat sich hin und wieder zehn Tage Urlaub im Harz verdient, wo ein paar Kinder zeugen soll, die am besten fünf oder sechs Jahre später selbst arbeiten. Wer hart arbeitet und auch mehr und dann ein Jahr nach Renteneintritt von jetzt auf gleich tot umfällt, ist ein wahrer Vorzeigebürger, dem man einen schwülstigen und arschkriecherischen Nachruf schreiben würde, wäre er nur Politiker gewesen.

Diese vermaledeiten Traditionen: Schön waren sie, die fünfziger Jahre, zumindest in der Erinnerung derer, die sie nicht erlebt haben und derer, die keine solidarische und gerechte Freiheit leben wollen.

Die Zukunft ist so ganz anders als wir uns das wünschen, der Weg ist steinig und mühsam, also müssen wir ungehalten werden und wütend und notfalls auch mal etwas oder jemanden anzünden, angestachelt (ich vermeide absichtlich den Ausdruck „aufgehetzt“) von verlogenen Figuren des öffentlichen Lebens, die vorgeben, im Interesse aller zu handeln, in Wirklichkeit aber nur ans eigene Wohl denken. Nein, das nehme ich zurück, ich möchte nicht unfair sein: Sie denken nicht nur an sich selbst, sie denken selbstverständlich auch an ihre gleichgesinnten Freunde im gleichgesinnten Kreise der Ihren. Und sie stacheln ja auch nicht an, sie benennen ja nur, sie zeigen ja nur auf, sie weisen ja nur hin.

Aber ich will nicht schwarzmalen und destruktiv sein, deshalb mache ich, im Gegensatz zu anderen, auch Vorschläge: Stecken wir doch die so und so vielen faulen Bürgergeldempfänger in die so und so vielen offenen Stellen und lösen so alle Probleme des Arbeitsmarkts und der Wirtschaft auf einen Schlag. Warum sollte ein rückenruinierter 60jähriger Fliesenleger denn keine Kernfusionsreaktoren entwickeln? Warum sollte eine einbeinige alleinerziehende 22jährige nicht an sechs Tagen pro Woche kranke Kinder in der Klinik und am siebten Tag alte Menschen im Heim pflegen? Und warum sollte eine BlPOC namens Mohammed kein international erfolgreiches Start-Up in der sächsischen Schweiz leiten? Ich jedenfalls bin gerne bereit, bei angemessener Bezahlung die Literatur in die Tonne zu treten und eine Position als Chefarzt in der Charité oder als Ingenieur bei einem namhaften Automobilhersteller zu bekleiden.

Diese vermaledeiten Traditionen: Wir marschieren so gern, das hat sich bewährt. Wenn es uns jetzt nicht gut geht, dann wird es uns besser gehen, wenn es anderen schlechter geht. Unsere Vorstellungkraft reicht nicht über einen Zeitraum von vielleicht zwei Jahren hinaus und wir schließen so gerne die Augen. Wer noch immer nicht sieht, dass die größte Bedrohung unserer aller Freiheit und unseres Wohlstands der kackbraune Rechtsfaschismus ist und es wohl nicht mehr lange dauert, bis der Vorsitzende der CDU, mit erfundenen Tatsachen argumentierend, der AfD das eiskalte Händchen reicht – Wer das noch immer nicht sieht, der will es nicht sehen oder ist damit einverstanden. Die Karten liegen offen auf dem Tisch.

Diese vermaledeiten Traditionen: Ich halte nicht viel von ihnen, aber bei meinen eigenen mache ich manchmal mit. Also habe ich auch in diesem Jahr meinen Silvestergruß geschrieben, wohl wissend, dass Traditionen die Ausrede all jener sind, die sich weigern, das eigene Handeln zu hinterfragen.

Habt einen friedlichen Jahreswechsel, liebe Mitreisende, möge uns ein friedliches Jahr bevorstehen. Spielt auf im Winter, summt im Frühling, singt im Sommer und tanzt im Herbst. Macht Zeug und macht dieses Zeug auch mal anders. Ein Jahr dauert 365 Tage und das nächste Jahr ist immer das schwerste, besonders wenn eine Europameisterschaft im eigenen Land ansteht. Malt Bilder von maulbrütenden Buntbarschen im Viktoriasee. Esst mehr Vitamine, bewegt euch an der frischen Luft. Fallt hin und steht auf. Tut euch ein bisschen pflegen. Werdet geil. Werdet schlaff. Fangt neu an und hört alt auf. Wir müssen alle sterben, aber nicht heute. Am Ende sind wir alle Futter für die Würmer, aber nicht heute. Wir waren Sternenstaub, wir werden’s wieder sein, aber nicht heute. Schraubt rum an Autos, am Internet und an euch. Seid mutig und schwach, steht aufrecht im Wind. Der Sturm zieht nicht auf, er ist längst da. Geht nicht gelassen in die gute Nacht, haltet Versprechen, viele Meilen trennen uns vom Schlaf. Bastelt Kinkerlitzchen und verschenkt Klamauk. Kauft euch ein Ticket. Legt euch auf Supermarktböden. Quengelt, aber quengelt mit Grund: The Kids are alright! Schimpft, aber schimpft mit Verve.

Löst Matheaufgaben, schreibt Gedichtinterpretationen in vier Sprachen. Wascht euch von hinten und vorne und von vorne nach hinten. Wenn ihr Lust auf Apfelstrudel habt, dann macht ihn selbst, nur so ist’s der richtige. Seid dankbar, seid demütig. Helft Pfadfindern über die Straße. Gebt nicht auf, gebt verdammt nochmal nicht auf, bitte, bitte, bitte, gebt nicht auf! Spendet Trost, Jogginghosen und Blut. Lest doch mal ein Buch und wenn ihr keines habt, dann schreibt eben eins. Habt die Lampe an, fühlt euch besser im Dunkeln. Sucht euch Hilfe. Spielt Fangen und Bass, Bassisten sind die Pflegekräfte der Musik: Sie stehen im Hintergrund, aber ohne sie bricht alles zusammen. Findet Walter und Nemo.

Tragt, was ihr wollt, aber nehmt anderen auch mal etwas ab. Erbettelt euch Zeit oder nehmt sie euch einfach. Vergesst nicht: Alles ist wahr, also glaubt besser nichts. Schneidet Stoff zu und gut ab. Nehmt hin und wieder Drogen, aber lasst euch nicht von Drogen nehmen. Backt Kuchen und ladet gute Menschen ein. Trefft euch mit guten Menschen. Lernt von guten Menschen. Feiert mit guten Menschen. Umgebt euch mit guten Menschen. Verflucht Faschisten, bringt ihnen nichts außer Verachtung entgegen. Schlagt die Wölfe tot, noch ehe der Hahn dreimal kräht. Habt euch lieb. Umarmt euch. Leckt Wunden, Körper und auch Ärsche, wenn ihr das mögt, leckt aber niemals Stiefel. Zieht euch manchmal eine Maske an, lasst sie manchmal fallen. Nehmt Abschied. Hockt euch hin und bleibt sitzen. Schaut euch um und schaut euch an. Lasst euch von Kunst verführen, lasst euch in sie fallen. Blättert um, esst andere Saiten auf. Macht die Arme weit und die Beine breit, aber bitte nicht im Bus.

Gebt euch hin und lacht. Lacht über mich, über euch, über flache Witze, über spitze Unterwäsche. Lächelt durch Tränen. Seid traurig, ihr dürft das. Seid frei und beschützt diese Freiheit um jeden Preis. Wir werden sie brauchen.

Rock’n’Roll macht uns stärker und der Blues kann uns heilen, also hört Musik und hört sie laut. Und denkt immer daran: Küsse sind besser als Raketen. So viel besser.

Planet earth is blue.

Pax nobiscum,
Björnbär

Silvester
Na, Wunderkerzen sind doch okay, wir brauchen kein großes Feuerwerk.