Elisabeth Mueller

Transformation


Seine Schuhe wurden schon zu eng, so sehr freute er sich auf den Abend. Er saß in einer Besprechung und versuchte der Präsentation seines Kollegen zu folgen. Heute Abend würde er sie wiedersehen. Er würde zu dem Park gegenüber ihres Hauses gehen, sich zwischen die Linden stellen und zu dem Haus, in dem sie wohnte, hinüberschauen. Nur noch ein paar Stunden. Solange müsste er noch durchhalten. Seine Zehen wurden schon etwas länger und er glaubte zu spüren, dass die Haut an seinen Beinen dicker wurde. Er musste sich gedulden. Sein Kollege fand kein Ende,
zeigte immer neue Grafiken und keinerlei Ermüdungserscheinungen bei der Beschreibung seiner Vision der Transformation des Unternehmens. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her und versuchte möglichst unauffällig seine Schnürsenkel zu lösen. Zu lange durfte es nicht mehr dauern. Die Vorfreude machte machte es ihm schwer sich zu beherrschen. Als die Besprechung vorbei war, ging er auf direktem Weg nach Hause, so schnell seine Füße ihn noch ließen. Dort angekommen zog er die Schuhe und den Anzug aus, bequemere Sachen und die großen Gummistiefel an. Es war schon warm genug, so dass er keinen Mantel mehr brauchte, als er wieder nach draußen ging und sich auf den Weg machte. Seine Beine wurden immer schwerer und steifer. Später als erhofft kam er zwischen den Linden an. Es war Frühling, die Sonne schien noch in den Park und er hatte sich auf dem Weg überlegt, heute ein großer Fliederbusch zu sein. Als er zwischen den Linden ankam, lag eine feste Rinde um seine Unterschenkel. Er zog die Gummistiefel aus und warf sie ins Gebüsch hinter sich, seine Zehen wurden noch länger und gruben sich in den weichen Boden unter dem Gras, ehe die Rinde auch über seine Oberschenkel und seinen Oberkörper kletterte. Hose und Pullover sorgten dafür, dass es nicht juckte und verschwanden unter ihr. Dann hob er beide Arme und wusste, dass er morgen Muskelkater haben würde. Als er ganz von der Rinde bedeckt war, fingen Blätter und Rispen an, aus seinen Armen und seinem Kopf zu sprießen. Und dann sah er sie die Straße herunter auf ihr Haus zugehen. Die ersten Bienen flogen in seine Blüten und ein Vogelpärchen machte es sich auf seinem linken Arm gemütlich. Als sie vor ihrem Haus ankam, entdeckte sie ihn und kam herüber. Ihr kleiner Hund schnüffelte an seinen Füßen und Beinen und hob dann eines von seinen. Sie stand so dicht vor ihm, dass er an ihr riechen konnte. Vanille dachte er und sie stecke die Nase in eine große weiße Dolde, die direkt vor ihrem Gesicht hing. Ihre Augen waren grün. Nicht so grün, wie seine Blätter. Sie hatten kleine graue Punkte. Er liebte sie, ihre Augen und auch alles andere an ihr. Und sie. Der Hundeurin lief an seinen Beinen herab und versickerte im Rasen. Jetzt griff sie an den dünnen Ast, an dem die Rispe, an der sie grade gerochen hatte, blühte und knickte ihn ab. Er zuckte, weil es zwickte und genoss ihr dabei zuzusehen, als sie zu ihrem Haus ging und ein paar Minuten später in ihrer Wohnung das Licht anschaltete und den Flieder in eine Vase am Fenster stellte.


Twitter: @lizzy_mueller