Im Alter Fische

Weiß wie Schnee und schwarz wie Zedernholz
Romanfragment

Der Prinz wanderte tief unter der Erde, als er es hörte. Schneewitt war in Gefahr.  Eine sanfte Stimme hauchte durch den Tunnel und tastete sich an sein Ohr.

Schneewitt …“, flüsterte sie.

Der Prinz blieb stehen. Er runzelte die Stirn. Die Stimme hatte er nie zuvor gehört. Es schien ihm, als wehte sie hinter einem Schleier hervor. Der Prinz blickte sich um. Kaltes, graues Granit umgab ihn. Er sah keinen Schleier und spürte auch keinen.

Schneewitt …

Der Prinz blickte zur Tunneldecke. Dort über ihm, Meilen entfernt, war die lebendige Welt. Die Welt, die Schneewitt zu ihrem Zuhause gemacht hatte.

Schneewitt … Sie wird gesucht. Sie wird gefunden.

Das ließ den Prinzen aufhorchen. Er wusste, dass Schneewitt gesucht wurde. Die Schwarze Königin war nicht müde geworden, nicht in all den Jahren. Wenn sie Schneewitt fand, würde rotes Blut fließen.

Aber Schneewitt hatte sich gut verborgen. Nicht einmal der Prinz wusste, wo sie sich aufhielt. Wusste es überhaupt jemand? Wie hätte die Schwarze Königin sie aufspüren können?

Sie wird gefunden. Sie ahnt nichts davon.

Der Prinz dachte nach. Was die Stimme ihm sagte, war rätselhaft und wenig glaubwürdig. Sogar wenn die Schwarze Königin sie ausfindig machte, wie konnte Schneewitt das nicht bemerken?

Nur … die Stimme klang überzeugend. Wissend. Kam sie von jenseits des Schleiers?

Schneewitt … Sie ist alleine. Und alleine wird sie sterben …

Die Stimme wehte davon.

Der Prinz fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er hatte Aufgaben zu erfüllen, wichtige Aufgaben. Aber auch Schneewitt war wichtig. Konnte er der Stimme trauen? Oder war sie von seinen Feinden geschickt worden, um ihn hervorzulocken?

Er seufzte. Es war ein langer, eintöniger Weg nach oben und dann weiter nach Tuivilen. In Tuivilen konnte er Dinge in Erfahrung bringen, die ihm bei der Suche nach Schneewitt helfen würden. Und wenn er Schneewitt fand? Vielleicht würde er dann auch die Schwarze Königin finden und besiegen können. Er legte den Gedanken wie einen Mantel um sich und machte sich auf den Weg nach oben.


Kindheitserinnerungen
Eine Kurzgeschichte

Sie würden bald hier sein. Der Himmel selbst hätte sie nicht aufhalten können. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Sonnenlicht strömte durchs Fenster und glänzte auf seinem Schreibtisch.

Täuschte er sich oder wurden die Dinge immer komplizierter? Er rieb sich über das glattrasierte Kinn. Zu vieles zu bedenken, zu viele Termine, zu viele Worte. Manchmal fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Wenn ihn alles zu überwältigen drohte, besann er sich auf alte Zeiten. Wobei „alt“ in diesem Zusammenhang das falsche Wort war. Er war einmal jung gewesen, in einem anderen Jahrhundert, in einem anderen Leben. Er erinnerte sich an seine Mutter, eine resolute Frau mit einem verkrüppelten Arm. Sie nahm ihr Los an, ohne sich je zu beklagen. Das hatte ihn später beeindruckt, als er ein junger Mann war und voller Selbstzweifel. Nun, seine Mutter hatte er schon vor langer Zeit zu Grabe getragen und seine Selbstzweifel ebenso.

Er legte seine Hände auf die Schreibtischplatte und genoss die Wärme auf seinen Fingern. Es erinnerte ihn an die Wintersonne auf der Fensterbank seines Kinderzimmers. Er hatte die kältesten Tage dort verbracht, zusammen mit seinen Stofftieren. Ratze der Hase und Bernie der einohrige Kater waren seine besten Freunde. Seinem Vater gefiel nicht, dass er laut mit den Tieren sprach, also tat er es nur noch, wenn die Eltern nicht zu Hause waren. Ratze verschwand irgendwann, alles Suchen half nichts und auch keine bitteren Tränen. Danach lies er Bernie nicht mehr aus den Augen. Bernie steckte unter seinem Pullover, als er mit den Eltern bei Tisch saß. Bernie kam mit in die Grundschule, gut verborgen in seinem Tornister. Bernie begleitete ihn zu Freunden. Und mehr denn je half ihm Bernie abends beim Einschlafen, vergraben in seiner Armbeuge.

Mit fünfzehn begann der einohrige Kater ihm peinlich zu werden. Als er eines morgens erwachte, sah er Bernie auf der Fensterbank, so wie er ihn am Vorabend platziert hatte: Kopf zwischen den Pfoten, Hinterbeine nach links, Schwanz nach rechts gelegt. Er stand auf, griff den Kater und stopfte ihn in eine Schublade.

Die Sonne wanderte langsam und er folgte ihr mit seinen Fingern über den Schreibtisch.

Jahre später, nachdem sein Vater gestorben war und er schon längst nicht mehr zu Hause lebte, fand er Bernie im Kleiderschrank, in einer Kiste mit alten Spielzeugen, von der sich seine Mutter offenbar nicht trennen wollte. Er nahm den Kater für ein Kinderheim mit. Erstaunlich, dass er sich an alles noch genau erinnern konnte, wenn es ihm gleichzeitig schwer fiel, die vergangene Woche im Gedächtnis zu behalten.

Es waren gute Erinnerungen. Er strich behutsam über den roten Samt. Seine damaligen Entscheidungen erschienen ihm nicht weniger schwierig. Heute wogen sie jedoch schwerer. Die Welt brannte an allen Ecken und Enden. Politik, Umwelt, Religion, Geld, alles musste bedacht werden. Aber er konnte eine Menge bewegen, immer noch. Sie hatten ihm vor einer Woche ihren Plan vorgelegt, er hatte zugestimmt und das Treffen heute stattgefunden. Es ging sehr schnell, vor allem wenn man die komplexe Lage betrachtete.

Zufriedenheit erfüllte ihn, er empfand es wie ein inneres Leuchten. Wenn er seinen Eltern für etwas besonders dankbar war, dann waren es die Werte, die sie ihm vorgelebt hatten. Sie konnten Recht und Unrecht stets trennen, richtig und falsch auch. Im Lauf seines langen Lebens hatte er zwar viele Bücher über das Thema Moral gelesen und ihm war klar, dass verschiedene Menschen verschiedene Dinge darunter verstanden. Doch wenn es Zweifel gab, holte er sich stets Rat. So war es auch diesmal gewesen. Wenn sie gleich zu ihm kommen würden, würde er es ihnen sagen.

Er legte die Fingerkuppen aufeinander und wartete. Es dauerte nicht lange, bis man sie ankündigte. Die Tür flog auf und sie stürzten herein. Es waren vier, wie er erwartet hatte. Alle waren völlig außer Atem. Der Dicke, Francescoli, keuchte erbarmungswürdig.

„Wir haben versucht, das Schlimmste zu verhindern“, platzte es aus Morris heraus. „Aber sie machen sich zur Abreise fertig. Der Imam spricht kein Wort mit uns.“

„Es ist ein Desaster!“ Rébeque schrie fast. „Das kann den dritten Weltkrieg bedeuten! Vielleicht haben sie Atomwaffen!“

„Bitte“, ächzte Francescoli. „Heiliger Vater. Warum habt Ihr das getan?“

Mit Bedauern bemerkte er, dass die letzten Sonnenstrahlen von seinem Schreibtisch verschwunden waren. Seine Hände fühlten sich kalt an.

„Kardinal Francescoli“, sagte er langsam. „Beruhigt euch. Ihr seht nicht gesund aus.“

„Heiliger Vater“, sagte Morris, der sich offensichtlich nur mit Mühe kontrollieren konnte. „Dieses Treffen war als Austausch von Friedensbotschaften geplant. Wir haben den Imam mühsam überredet. Er war der Letzte, wirklich der Letzte, der die Lage im Nahen Osten noch hätte beruhigen können.“

„Dort wird alles explodieren“, sagte Rébeque.

Der Heilige Vater sah ihn an. Ich nehme an, dachte er, Rébeque wird wissen, was dort unten vor sich geht. Schließlich ist er Marokkaner.

„Die Welt ist in Gefahr, Vater“, sagte Rébeque. „Warum habt ihr das getan?“

Papst Innozenz erhob sich mühsam.

„Ich habe ausgesprochen, was Gottes Wille ist“, erklärte er.

Jetzt konnte sich Morris nicht mehr zurückhalten.

„Ihr habt zu einem Kreuzzug aufgerufen!“, schrie er. „Live! In einer Pressekonferenz!“

„Das ist nicht Gottes Wille“, sagte Francescoli.

„Ich habe das in Erwägung gezogen“, antwortete Papst Innozenz. „Aber mein engster Berater hat mich in der Entscheidung bestärkt.“

Bei den Worten engster Berater drehten sich Francescoli, Morris und Rébeque zu dem vierten Mann um.

„Kardinal Colletta“, sagte Francescoli langsam. „Bruder. Was habt Ihr getan?“

Collettas Stirn lag in Falten. Er schüttelte den Kopf.

„Ich habe nicht mit dem Heiligen Vater gesprochen“, sagte er mit heiserer Stimme.

„Nein“, bestätigte der Papst. Seine Hand tastete in einer Schreibtischschublade. „Die wirklich wichtigen Dinge bespreche ich nicht mehr mit Kardinal Colletta.“

Er zog Bernie heraus, setzte ihn auf die Schreibtischplatte und zeigte mit offener Handfläche auf ihn.

„Wir waren nicht immer einer Meinung. Aber in diesem Fall hat er meine Zweifel ganz und gar ausgeräumt.“


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