Ein sehr persönlicher Jahresrückblick
Bei mir wurde in diesem Jahr Krebs diagnostiziert, ich musste Unmengen an Tabletten schlucken, lag immer wieder in der Klinik, ich wurde insgesamt sieben Mal operierst, bin beinahe auf dem Tisch geblieben und hab nur knapp überlebt. Meiner Mutter ging es nicht so gut, unser Haustier musste eingeschläfert werden, mein Sohn wurde von seinen Mitschülern gemobbt, wir mussten ihn von der Schule nehmen.
Wir haben heimlich geheiratet, in einer kleinen Kapelle in einem Schweizer Bergdorf, fast dreihundert Freunde kamen zur Feier, mein Vater hat mich mit seiner Rede zu Tränen gerührt, wir haben niemandem etwas davon erzählt, unsere Eheringe sahen aus wie Schraubenmuttern, Onkel Rainer hat sich benommen wie ein Arschloch, die Einladungskarten kamen zu spät, wir wussten gar nichts davon.
Ich wurde in diesem Jahr arbeitslos, ab Juni lebte ich von Hartz IV, ich wurde endlich zum Abteilungsleiter befördert, die Abfindung war mehr als großzügig, ich wusste lange nicht, ob ich die Füße jemals wieder auf den Boden bekomme, das Weihnachtsgeld hat mir den Arsch gerettet, wir haben ein Haus gekauft, ich habe endlich meinen Abschluss gemacht.
Im Geräteschuppen hatte sich ein Marder eingenistet, der Sommer war so unglaublich heiß, es hat wochenlang geschüttet wie aus Kübeln, der Hagel hat mir die Blumen ruiniert, ich habe zwanzig Kilo abgenommen, die Äpfel waren so süß wie nie, der ganze Keller steht voll mit eingemachten Schwarzwurzeln und Schattenmorellen.
Der Wasserrohrbruch hat ein ziemliches Loch in die Haushaltskasse gerissen, Opa ist gestorben, ich konnte meinen 50. Geburtstag feiern und das 30jährige Firmenjubiläum. Der oberste Chef hat die Sekretärin gevögelt, ich weiß, das klingt wie ein Klischee, ist aber wahr, Frau Schwarz hat sich die Brüste machen lassen, ich war an dem Tag leider krank.
In diesem Jahr ist der Krieg ausgebrochen, mir wurde ins Bein geschossen, wir haben alles stehen und liegen gelassen und sind nur noch gerannt, eine Zeitlang haben wir uns überlegt, ob wir Konserven horten sollten, wir konnten die Raten nicht mehr bezahlen, unsere Tochter ist zum Islam übergetreten, ich habe einen Entzug gemacht und bin jetzt clean, uns wurde die Wohnung wegen Eigenbedarf gekündigt, dabei hat der doch gar keine Kinder, im Nachbarhaus ist die Küche explodiert, man könnte meinen, alle sind verrückt geworden, wir sind umgezogen.
Die erste Frau, die ich in diesem Jahr geküsst habe, war rothaarig, die zweite hieß Christoph, den Namen der dritten habe ich vergessen. Natürlich habe ich wieder viele Menschen verletzt, manche vorsätzlich, die meisten jedoch unabsichtlich, stundenlang hab ich Musik gehört, viel zu oft konnte ich kaum aufstehen, mein Hasenherzchen ist und bleibt ängstlich, machen wir uns nichts vor, ich habe eine wundervolle Freundin in ihr gefunden, wir sind jetzt beide 29, es bedeutet „Neun“, angeblich soll es nur noch zwei Staffeln geben, selten hat mich ein Cliffhanger so kirre gemacht.
Ich habe in einem Moment der Unachtsamkeit meine Nachbarin geschwängert, meine Freundin hat sich von mir getrennt, mein erstes Buch wurde veröffentlicht, ich wollte das doch gar nicht, du warst genauso schuld wie ich, unsere Tochter hat ihr Abitur gemacht und den Führerschein, mein Sohn hatte einen schweren Autounfall und sitzt seither im Rollstuhl, ich war ja dermaßen besoffen, wir wissen alle nicht, ob er durchkommt, die Ärzte wollen das vertuschen, ich muss sagen, die Krankenkasse hat sich sehr kulant gezeigt, wir haben einen Gasherd installieren lassen.
Mein Account wurde gehackt, Facebook hat mich gesperrt, das Ganze landete dann tatsächlich vor Gericht, ich lasse mich nicht über den Tisch ziehen, die sollen ruhig mal sehen, was sie davon haben, ich wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, er hat dann ein Jahr auf Bewährung bekommen, meine Tochter wurde auf einer Party beinahe vergewaltigt, hinterher will’s wieder keiner gewesen sein, dieses TV-Experiment hat unsere Familie zerstört, ich war auf einem Konzert von Xavier Naidoo, ich muss sagen, der Typ ist ein ziemlicher Vollpfosten.
In diesem Jahr war ich mit Robbie Williams zum Surfen am Strand von Malibu, ich wurde wieder unzählige Male mit Leonardo verwechselt, was soll ich machen, ich kann doch nichts anderes, ich habe nicht im Lotto gewonnen und lebe jetzt auf einer Insel im Meer, der Pfarrer hat so nett bei der Beerdigung gesprochen, inzwischen sind fast alle weg, die damals dabei waren, es bleiben letztlich nur Erinnerungen und gekritzelte Tagebucheinträge, ich bin immer noch ganz gut drauf für meine Situation, es geht mir gesundheitlich okay, sogar besser, als es eigentlich dürfte, ich weigere mich, im Zorn zurückzublicken, ein weiteres Jahr im Paradies, es war nicht unbedingt das beste, aber was heißt das schon?
Keep on rockin‘ in the free world, liebe Mitmenschen, seid gesund, lebt jeden Tag als sei es der erste, bleibt tapfer und seid lieb zueinander. Ich werde niemals aufhören, es zu versuchen.
Planet Earth is blue.
Pax nobiscum,
Björnbär